Lebenslust, Nr. 3/2014

Das Magazin berichtet in Ausgabe 3/2014 ausführlich über unseren Zeitzeugen Mauk Reinhardt und einen Besuch im Kaßberg-Gefängnis:

Zur - traurigen - Wahrheit der deutsch-deutschen Geschichte gehört auch das Thema Menschenhandel. Eine Reportage über die Eindrücke an einem mitunter beklemmenden Ort gegen das Vergessen. (aus „Lebenslust", Nr. 3 / 2014; Autor: Rüdiger Jope)

Lasst doch die alten Geschichten endlich ruhen!"‚ entrüstet sich der grauhaarige alte Mann, als ich ihn nach dem Weg frage Ich bin unterwegs auf dem Chemnitzer Kaßberg. Der Stadtteil zählt zu den größten Gründerzeit- und Jugendstilvierteln Deutschlands. Ein mit Stacheldraht gesichertes Gebäude sticht inmitten dieser Villenpracht heraus: die ehemals Königlich-Sächsische Gefangenenanstalt. Am großen Stahltor empfängt mich Maik Reinhard. Gestern hat er seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert: „und zwar in Freiheit", wie der Sachse strahlend sagt. Er steckt einen großen Schlüssel ins Schloss. „Vor fünfundzwanzig Jahren saß ich hier ein. Wegen versuchter Flucht aus der DDR." Jetzt hat der Exhäftling die Schlüsselgewalt inne. Irgendwie unglaublich und doch real!

 

Das Tor öffnet sich. Auch wenn die Frühlingssonne das Innenleben in ein warmes Licht taucht: Das Hauptgebäude mit seinen drei krakenförmigen Trakten wirkt einschüchternd und bedrohlich. Die berüchtigten „Tigerkäfige" sind einem Sportplatz gewichen. Ein Spatz ignoriert unser Schweigen. Geschäftig pickt er in einem Beet voller Unkraut. Maik deutet auf einen Rosenstock. „Diese Pflanze im Eingangsbereich des Knastes wurde von der Stasi gehegt und gepflegt. Hier in diese Schleuse kamen die Autos mit der Tarnaufschrift ‚Täglich frischer Fisch' zum stehen, denen dann abgeschottet von der Außenwelt die Verhafteten entstiegen." Die DDR vertickte über diese Art Handel von 1963 bis 1989 mehr als 32 000 „Fische" an die Bundesrepublik. Die überwies für diesen Menschenhandel mit Häftlingen über verschwiegene Mittelsmänner 3,4 Milliarden D-Mark. Ein schmutziges und zugleich auch humanitäres Geschäft, nach dem Motto: Freiheit für Devisen.

HÜBSCH GEMACHT FÜR DIE REISE IN DEN WESTEN

Wir stehen im Hauptgebäude. Einen Trakt nutzte die Volkspolizei, einer diente der Untersuchungshaft und im dritten wurden die Häftlinge von der Staatssicherheit „hübsch gemacht für die Reise in den Westen". Durch eine Gittertür betreten wir den Zellentrakt. Mit 370 Zellen war dies das größte Gefängnis der DDR. Unsere Schritte verhallen im Halbdunkel. Auch wenn nach der Wende die Haftanstalt mit vierzehn Millionen Euro „aufgehübscht" (und danach 2010 wegen mangelndem Brandschutz aufgegeben) Wurde: Die Atmosphäre ist beklemmend. Maik führt mich in eine Zelle. Seine Zelle. „Hier wurde ich am 2. Mai 1989 abends gegen neun Uhr zugeführt. Dadurch, dass während der Transporte immer alle Fenster verschlossen und auch hier im Knast alle Fenster mit Glasbausteinen versehen waren, verlor man schnell die Orientierung." Ein Tisch und ein Bett aus kahlem Beton und ein wortkarger Wärter heißen den Häftling Willkommen. „Nur damit kein falsches Bild entsteht", erklärt Maik, „die Kloschüssel und die Wandfarbe sind ein später Westimport. Vor fünfundzwanzig Jahren stand hier ein Eimer ..." Die Stahltreppe scheppert. Die kahlen Wände werfen ein mystisches Echo zurück. Was diese Mauern wohl an Leid, Tränen, Verzweiflung, Ohnmacht, Angst und Enttäuschung aufgesaugt haben? Inzwischen sind wir im ersten Stock. „Hier in diesem Raum gab man seine persönliche Habe ab. Hier verlor man seine Identität für eine Nummer und graue Häftlingskleider." Maik schluckt. Wenige Momente später befinden wir uns in einem etwas versteckten, kahlen Raum. „Alle Zellen waren verwanzt. Hier hörten jeweils sechs Frauen rund um die Uhr mit, was in den Zellen geredet wurde. Im Wirrwarr der Gänge macht Maik Reinhardt mich auf Metallspuren an der Wand aufmerksam. „Hier standen drei ,Käfige'. In diese 1 mal 1 Meter große Boxen Wurden wir Häftlinge gesperrt, wenn wir auf Haftrichter und Vehörer zu warten hatten." Der Raum zum Verhör befindet sich im Keller. Es ist feucht. Grau-grüner und weißer Schimmel hat sich in den Tapeten festgekrallt und wächst an der Wand empor. „Können Sie sich Vorstellen, hier zu arbeiten? Die Stasibeamten haben hier ihr Leben verbracht. " Mich schaudert's.

„IST DAS EINE MASCHINENPISTOLE, DIE GERADE ENTSICHERT WIRD?!"

Nach seiner Ausbildung zum Elektriker will Maik studieren. Sein Traum wird mit der Begründung, er sei „politisch unzuverlässig", abgelehnt. Sein Charakter, auch unbequeme Dinge ehrlich zu benennen, findet sich als Eintrag in der Kaderakte wieder. Als dann noch die Einberufung zur Nationalen Volksarmee NVA droht, beschließt er mit einem Freund im Frühjahr 1989 die DDR zu verlassen. Über die Sächsische Schweiz wagen sie - getarnt als Bergsteiger, bepackt mit Seilen, Bolzenschneider und Übersteighaken - die Flucht. Im Böhmerwald angekommen, machen sie eine unangenehme Entdeckung: Neuschnee macht das Klettern unmöglich. Über die Karte gebeugt, brüten Sie einen Ersatzplan aus. Gegen l5 Uhr „Wandern" sie am 19. April von Marienbad aus Richtung Westen. Kurz vor 0.30 Uhr erreichen sie den ersten Grenzzaun. Unbemerkt lösen sie Alarm aus. Bald wimmelt es im Wald von Hunden und Soldaten. Die zwei Freunde trennen sich. Irgendwann hat Maik den letzten von fünf Zäunen vor sich. Flach atmend duckt er sich. Er sammelt seine Kräfte für einen letzten Sprint und den entscheidenden Sprung. Da vernimmt er plötzlich ein metallisches Geräusch. „Ist das eine Maschinenpistole, die gerade entsichert wird?!", schießt es ihm durch den Kopf. Instinktiv hebt er die Hände. Wenige Momente später klicken die Handschellen. Nach zwei Wochen Odyssee landet er mit zwanzig weiteren „Republikflüchtigen" in Berlin—Schönefeld. Über den Stasiknast Hohenschönhausen geht die Fahrt in einem getarnten Fahrzeug der „Energieversorgung" nach Dresden. Dort angekommen, wird er umgeladen in den Barkas-Transporter „Täglich frischer Fisch" nach Karl-Marx-Stadt. Sein Urteil im Schnellverfahren lautet: 22 Monate Haft.

AMNESTIE ABGELEHNT: AM TAG DES MAUERFALLS

Schweigend stehen wir inzwischen auf dem Hof. Er zeigt in eine Ecke. „Dort war ein weiteres Tor. Da hinaus fuhr der Bus nach Gießen." Angekommen in Herleshausen, wechselte dieser auf Knopfdruck das Nummernschild. Damit wurde aus dem DDR-Bus ein „Westbus". Immer wenn sich ein Transport ankündigte, wurden die ohnehin schon dunklen Fenster verrammelt. Hektisches Schreien und schlagende Türen wurden zu hoffnungsvollen Vorboten auf die Freiheit. Häftlinge fragen sich: Stehe ich vielleicht auf der geheimen Ausreiseliste? Anlässlich des 40. Geburtstages der DDR am 7. Oktober 1989 wird eine Generalamnestie verkündet. Für Maik jedoch bleibt die Zelle zu. Er stellt einen Antrag auf Amnestie. Aber dieser wird abgelehnt: am Morgen des 9. November 1989! Keine zwölf Stunden später fällt die Mauer. Sechs Tage später ist der 26-Jährige ein freier Mensch. Heute, fast 25 Jahre danach, steht vor mir ein mit seiner Vergangenheit versöhnter Mensch. Ich frage ihn nach seinem Geheimnis. Lachend antwortet er: Reden, reden und reden. Maik hat sich der schmerzlichen Geschichte gestellt. Er hat nichts verdrängt, nichts schöngeredet, sondern sich auf einen Weg der Versöhnung gemacht. Auf diese Weise ist er seinen Hass und die Verbitterung auf die einstigen Gegner losgeworden. Wenn er heute Führungen macht, passiert es immer wieder, dass Menschen raus müssen, weil ihre schmerzliche Geschichte wieder nach oben gespült wird. „lch vermittle diese Menschen dann, wenn sie es wollen, an Gesprächspartner oder Therapeuten weiter. Eine junge Frau bat mich kürzlich um den Schlüssel. Ihr Vater war Während einer der Führungen zusammengeklappt. Der alte Herr verbrachte Stunden hier. Und nachher berichtete mir die Tochter: Das ganze Wesen ihres Vaters hätte sich verändert. Er sei ein ganz anderer, ja heil geworden."

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