Zur Geschichte des Chemnitzer Kaßberg-Gefängnisses

Die Bauweise

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ließ das Königreich Sachsen am östlichen Rand des bürgerlich geprägten Chemnitzer Kaßbergs einen neuen Justizkomplex errichten, zu dem neben den repräsentativen Gebäuden der Staatsanwaltschaft sowie des Land- und Amtsgerichts eine Gefangenenanstalt gehörte. Letztere, ein 1876/77 erbauter, mit sandsteinernen Fenster- und Türrahmungen sowie geschwungenen Gesimsen verzierter Putzbau, lehnt sich in seiner baulichen Ausgestaltung stark an die damals modernen Maßstäbe viktorianischer Gefängnisarchitektur an: Konzipiert nach dem panoptischen Prinzip erhebt sich die Haftanstalt über einen kreuzförmigen Grundriss. Sie besteht aus einem zentralen Mittelbau, der Rotunde, welche den Verwaltungstrakt mit den drei in Galeriebauweise errichteten Zellenflügeln (A-, B- und C-Flügel) verbindet.

 
Bild 1: Außenmauer, Aufnahme vom Juni 2017 (Foto: Vladimir Shvemmer)

 


Bild 2: Blick von unten nach oben in der Rotunde (Foto: Vladimir Shvemmer)

 Die Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945

Von 1933 bis 1945 diente das in jener Zeit um einen vierten Zellentrakt (D-Flügel, Baubeginn 1938) erweiterte Untersuchungs- und Strafgefängnis – ähnlich den Haftanstalten in Hoheneck (Stollberg) und Bautzen – den Nationalsozialisten zur Inhaftierung zahlloser Menschen. In den 184 Zellen der 1936 in ,,Untersuchungsgefängnis Chemnitz” umbenannten Gefangenenanstalt saßen neben „gewöhnlichen Kriminellen“ vor allem: politische Häftlinge der Justiz sowie von der Gestapo verhaftete Kommunisten, Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas und andere aus der ,,Volksgemeinschaft” ausgegrenzte Personen, darunter Homosexuelle und als „asozial“ Stigmatisierte (Bettler, sog. ,,Arbeitsverweigerer“, Prostituierte). Für viele Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrscher bildete das Kaßberg-Gefängnis eine der ersten Stationen auf einem langen Leidensweg, der nicht wenige von ihnen in die „Hölle der Konzentrationslager“ führte. Eine zentrale Rolle spielte die Haftanstalt auf dem Kaßberg bei der Entrechtung und Verfolgung Chemnitzer Juden: Im November 1938 hielt die Gestapo hier unter menschenunwürdigen Bedingungen 14 jüdische Männer für mehrere Wochen fest, die sie in der Reichspogromnacht mit 172 weiteren, wenig später in das KZ Buchenwald verschleppten Opfern, in Schutzhaft genommen hatte.


Bild 3: Blick von Osten auf das Gefängnis, 1934 (Quelle: Stadtarchiv Chemnitz)


Bild 4: Heute gibt es einen Gedenkort, der an die Menschen erinnert, denen durch die nationalsozialistische
Gewaltherrschaft in der Haftanstalt auf dem Kaßberg größtes Unrecht widerfahren ist

Da das Gefängnis einer der zentralen Tatorte für die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Chemnitz war und die nationalsozialistischen Gewaltherrscher vom Kaßberg aus hunderte Menschen in die Konzentrationslager deportierten, konzipierte der Verein gemeinsam mit der Berliner Agentur „Culture and more“ eine Ausstellung über die Verfolgung und Kriminalisierung Chemnitzer Juden. Diese beschreibt den Übergang von der Diskriminierung der jüdischen Chemnitzerinnen und Chemnitzer zur rassenideologischen Verfolgung. Die Ausstellung zeigt der Verein fortwährend im ehem. Kaßberg-Gefängnis, damit sie von jedem Besucher im Rahmen einer Führung angesehen werden kann.

 
Bild 5: Die Ausstellung wurde zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht eröffnet

 


Bild 6: Die Ausstellung befindet seit der Museumsnacht 2017 in einem separaten Raum, Aufnahme vom Mai 2017 (Foto: Chris Seidel)

 Das NKWD-Gefängnis 1945-1952

Nach der Befreiung Deutschlands im Mai 1945 übernahm der sowjetische Geheimdienst NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) bzw. das sowjetische Ministerium für Staatssicherheit (MGB) das Kaßberg-Gefängnis. Neben NS-Verbrechern, darunter Angehörige des Chemnitzer Polizeibataillons 304, welches in den Jahren 1940 bis 1944 aktiv am Holocaust in Osteuropa beteiligt war, gehörten zu den Untersuchungsgefangenen Menschen, die sich, einerseits aus liberaler politischer Überzeugung heraus dem neu entstehenden kommunistischen System widersetzten sowie andererseits jene, die unschuldig Opfer von Denunziation und politischer Willkür wurden. Das betraf zahlreiche Jugendliche, die sich dem haltlosen Verdacht ausgesetzt sahen, Mitglieder der – vermeintlichen – NS Partisanenorganisation ,,Werwolf“ gewesen zu sein. Zudem kamen Personen aus dem Umfeld des Bergbauunternehmens SAG Wismut in das Kaßberg-Gefängnis. Sie wurden der Spionage oder Sabotage bezichtigt. Viele Inhaftierte verurteilte ein in der Nähe der Haftanstalt tagendes Sowjetisches Militärtribunal (SMT) in rechtsstaatswidrigen Schnellverfahren zu drakonischen Haftstrafen (20-25 Jahre) oder gar zum Tode. Vom Kaßberg aus wurden die Betroffenen in eines der sowjetischen Speziallager (u. a. nach Bautzen und Mühlberg an der Elbe) oder zur Vollstreckung des Todesurteils in das Moskauer Butyrka-Gefängnis verbracht.


Bild 7: Annemarie Krause und Rudolf Sehm wurden Ende der 1940er Jahre aus politischen Gründen
im Kaßberg-Gefängnis eingesperrt, Aufnahme vom Frühjahr 2018 (Foto: Marcel Ludwig)


Bild 8: Blick nach oben im A-Flügel, Aufnahme vom Juni 2018 (Foto: Vladimir Shvemmer)


Bild 9: Jedes Jahr zur Museumsnacht erinnert der Verein an Wolfgang Looß. Wegen – angeblicher – „Werwolf“-Tätigkeiten
kam er im Oktober 1945 in die Untersuchungshaftanstalt auf den Kaßberg, bevor er 1947 von Bautzen aus nach Sibirien
zur Zwangsarbeit verschleppt wurde, Aufnahme vom Mai 2017 (Foto: Chris Seidel)

 Untersuchungshaft des MfS 1952-1989/90

Nach der Übergabe an die DDR-Behörden 1952 diente der Gefängnisbau sowohl dem Ministerium des Innern (D-Flügel) als auch der DDR-Geheimpolizei als Haftstätte. Im A-, B- und C-Flügel sperrte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tausende politische Verfolgte ein, darunter z. B. Menschen, die der SED-Herrschaft kritisch gegenüberstanden oder versucht hatten, die Grenzen der DDR zu überwinden. Die für die geheimpolizeiliche Absicherung der sowjetischen Uranförderung im Wismutgebiet zuständige MfS-Objektverwaltung ,,Wismut“ (OV W) richtete – anknüpfend an die entsprechende Verwendung des Kaßberg-Gefängnisses in der NKWD-Zeit – eine eigene Untersuchungsabteilung in der Haftanstalt ein. Im Jahr 1989 verfügte der vom MfS genutzte Gefängnisteil über 163 Zellen, in denen 329 Häftlinge untergebracht werden konnten. In der statistischen Momentaufnahme war es möglich, rund ein Fünftel aller Untersuchungshäftlinge des MfS auf dem Kaßberg zu internieren.


Bild 10: Eine Gefängnistür, nach 1990 eingebaut, Aufnahme vom Juni 2018 (Foto: Vladimir Shvemmer)


Bild 11: Blick in den A-Flügel, die Untersuchungshaftanstalt, Aufnahme vom Frühjahr 2018 (Foto: Marcel Ludwig)


Bild 12: Zum Gedenken an die hier auf dem Kaßberg inhaftierten Verfolgten der kommunistischen Diktatur
in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR

 Der deutsch-deutsche Häftlingsfreikauf 1963-1989

Als größte der insgesamt 17 Untersuchungshaftanstalten der ostdeutschen Geheimpolizei kam dem Gefängnis in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) seit Mitte der 1960er Jahre eine besondere Funktion zu: Es wurde zur zentralen Drehscheibe des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs. Zwischen 1963 und 1989 erwirkte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Freilassung von mehr als 33.000 politischen Häftlingen aus den Gefängnissen der DDR. Im Gegenzug erhielt der „Arbeiter-und Bauern-Staat“ Warenlieferungen im Wert von rund drei Milliarden D-Mark. Annähernd 90 Prozent aller für dieses ,,Tauschgeschäft“ auserwählten Gefangenen ließ das MfS aus den verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen in den B-Block auf den Kaßberg verlegen. Der B-Block wurde im MfS-Jargon als „Päppelanstalt“ bezeichnet, die Gefangenen verwendeten den Begriff „Vogelkäfig“, da der zentrale DDR-Unterhändler und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel hieß. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im B-Trakt wurden sie in Sammeltransporten über den innerdeutschen Grenzübergang Wartha/Herleshausen in das Notaufnahmelager Gießen gebracht. Nach einer langen Odyssee begann das Leben in Freiheit.


Bild 13: Blick in den B-Flügel, den „Vogelkäfig“, Aufnahme vom Juni 2018 (Foto: Vladimir Shvemmer)


Bild 14: Rotunde Richtung Verwaltungsgebäude, Aufnahme Frühjahr 2018 (Foto: Marcel Ludwig)

 Die Zeit nach 1990

Nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur übernahm der Freistaat Sachsen die Gefängnisanlage. Er betrieb sie nach Modernisierungsmaßnahmen bis Ende 2010 als Justizvollzugsanstalt. Als erste Planungen zum Verkauf der Liegenschaft anliefen, erfolgte ein breiter erinnerungspolitischer Diskurs über den künftigen Umgang mit dem geschichtsträchtigen Gefängnisbau. Begleitet von großem medialem Interesse gründeten engagierte Bürgerinnen und Bürger im November 2011 den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. Dieser setzt sich mit Unterstützung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten dafür ein, in würdiger Weise am historisch authentischen Ort an das Leid all jener zu erinnern, denen auf dem Kaßberg unter den nationalsozialistischen Gewaltherrschern sowie in den Jahren der kommunistischen Diktatur größtes Unrecht widerfahren ist. Jede Epoche steht dabei für sich. Von Anfang an war es Ziel des Vereins, in einem Teil des ehemaligen Haftgebäudes eine Gedenkstätte zu errichten und zu betreiben.


Bild 15: Das Kaßberg-Gefängnis 1990 (Foto: Rainer Scheck) 


Bild 16: Heute führen Zeitzeugen, wie Rolf Kiesel, Besucher durch die einstige Haftanstalt,
Aufnahme vom Juni 2018 (Foto: Vladimir Shvemmer)

 

(Der Großteil des Textes basiert auf einer Zusammenfassung von Christian Lieberwirth)